schwarz-weiß Foto und Brief
Foto, 20.12.1955 & Brief, 18.11.1998
picture alliance / dpa & Luigi und Josefa Maruccio / DOMiD-Archiv, Köln

Das Heft in der Hand halten

Ankommen, arbeiten, sparen und dann wieder weggehen? Das sahen jedenfalls die Abkommen vor. 

Der deutsche Bundesminister für Arbeit Anton Storch und der italienische Außenminister Gaetano Martino reichen sich im Dezember 1955 nach der Unterzeichnung des ersten Anwerbeabkommens in Rom die Hand. Das Abkommen sah eine Aufenthaltsfrist der italienischen Arbeitsmigrant*innen von ein bis zwei Jahren vor und galt als Vorlage für Abkommen mit weiteren Staaten…

…dass sich Menschen nicht einfach dieser Vorstellung fügten, zeigt dieser Firmenbrief: Etwa 40 Jahre nach dem Anwerbeabkommen wird dem „Gastarbeiter“ Luigi Maruccio zum 25-jährigen Dienstjubiläum gedankt. 
 

Das Heft in der Hand halten – Hintergrundinformationen

 
Nicht bleiben, sondern wieder gehen – die zwischen 1955 und 1973 etwa 14 Millionen angeworbenen Arbeitsmigrant*innen sollten und wollten, so die Pläne der meisten Involvierten, nicht in Deutschland einwandern. 
Die zeitliche Begrenzung war von Beginn an umstritten: erste Pläne zur Anwerbung besprach Ludwig Erhard mit dem italienischen Außenminister bereits 1954. Er argumentierte, dass angesichts der Wiedereinführung der Wehrpflicht und der beginnenden Rüstungsproduktion schon bald mit einem Arbeitskräftemangel zu rechnen sei. Der Initiative begegnete viel Abwehr – die Gewerkschaften und die SPD positionierten sich gegen die Anwerbung und vertraten die Ansicht, erst eine Anstellung für jede*n deutsche*n Arbeitslose*n zu gewährleisten, bevor auf ausländische Arbeitskräfte zurückgegriffen werden könne. 
Wann genau von Vollbeschäftigung die Rede sein konnte, wurde dabei verschiedentlich ausgelegt: Regional variierte der Arbeitsmarkt teils stark. Daher wurde mit der Unterzeichnung des ersten Anwerbeabkommens argumentiert, dass Einreisende durch die individuelle Zuweisung zu einem spezifischen Unternehmen vorübergehende „Spitzenbedarfe“ auffangen könnten. Diese kurzfristige Perspektive wurde in den folgenden Jahren immer wieder eingenommen. Migrant*innen wurden so über viele Jahre hinweg eine Flexibilitätsreserve für den bundesdeutschen Arbeitsmarkt, der in Zeiten der Krise – wie während der ersten Rezession des Landes 1966/67 – auch mit zahlreichen Kündigungen und Ausweisungen reagierte.
Aber sowohl für die Unternehmen als auch für viele Beschäftigte war der kurzfristige oder vorübergehende Aufenthalt schnell unrealistisch und die auf Rotation ausgelegten Bedingungen hinderlich. Unternehmen hatten kein Interesse daran, Arbeitskräfte, die erst vor kurzem angelernt wurden, schon bald wieder zu verlieren und gleich darauf erneut Zeit in die Anlernung neuer Arbeitskräfte zu investieren. Und obwohl der Plan für Leben und Arbeit der Migrant*innen  es nicht vorsah: Viele bauten sich am neuen Wohnort dauerhafte Existenzen auf.